EU-Taxonomie: Irrweg oder Pragmatismus?

Einerseits treibt die Europäische Union die Förderung nachhaltiger Energien zügig voran. So kommt zu den beschlossenen Maßnahmen ab Sommer 2022 die Integration des Anlagekunden als aktiven Teil der Gesamtstrategie hinzu. Anlageberater sollen dazu verpflichtet werden, potentielle Investoren explizit zu ihren Vorlieben bei nachhaltigen Anlageprodukten zu befragen, um so das Bewusstsein für das Thema zu fördern. Auf der anderen Seite schockiert die EU die Öffentlichkeit mit ihrer Entscheidung, auch Gas– und Kernkraftwerke vorübergehend als  nachhaltig einzustufen. Wie geht das zusammen?

Die Proteste gegen den Nachhaltigkeitsentscheid für Gas und Kernkraft kommt aus allen Richtungen der Gesellschaft. So will Österreich gegen die Entscheidung sogar Klage vor dem Europäischen Gerichtshof erheben. Obwohl die EU-Kommission Gas und Kernkraft ausdrücklich als Brückentechnologien einstuft und auf den vorübergehenden Charakter ihrer Entscheidung verweist, hält die Kritik unvermindert an.

Ein unpopulärer Kompromiss

Kommissionssprecher räumen unumwunden zu, mit der Aufnahme von Gas und Kernkraft in den Nachhaltigkeitskatalog keine Ideallösung gefunden zu haben. Dennoch scheint es aus Sicht der EU keine andere Lösung zu geben. Der Grund dafür liegt am bisher schleppenden Ausbau nachhaltiger Energien, und das besonders in Deutschland.

Noch im dritten Quartal 2021 kam in der Bundesrepublik knapp ein Drittel des erzeugten Stroms aus Kohlekraftwerken, so eine Erhebung des Statistischen Bundesamts. Hinzu kommen kontraproduktive Zulassungsbestimmungen, wie etwa die 10H-Regel für Windkraftanlagen in Bayern, wonach der Mindestabstand von Windrädern zu Wohngebäuden das Zehnfache ihrer Höhe betragen muss.

Angesichts der aktuellen Lage erscheint die Vision der Regierungskoalition, bis 2030 den vollständigen Ausstieg aus der Kohleverbrennung vollzogen zu haben, äußerst ambitioniert. Dieser Situation will die EU mit der vorläufigen Duldung von Gas und Kernkraft Rechnung tragen – der Vollversorgung zuliebe.

Nicht vernachlässigbar ist in diesem Zusammenhang auch die Zukunftsprognose zum Energiebedarf: Es gilt, mit den vorhandenen Mitteln nicht nur den aktuellen Bedarf zu decken – bis 2030 ist darüber hinaus mit einem Anstieg des Gesamtbedarfs um bis zu zwanzig Prozent zu rechnen. Diesen Gewaltakt ohne die vorübergehende Nutzung von Gas und Kernkraft zu bewältigen, ist nach Ansicht der EU nicht möglich.

Rückstände in Deutschland sind unübersehbar

Laut dem Analyseinstitut EuPD Research wird das laufende Jahr in Deutschland mit einem Energiedefizit von 37 Terawattstunden enden – und das trotz der bestehenden Kohlekraftwerke. Angesichts des steigenden Energiehungers steht zu befürchten, dass die Unterversorgung in den kommenden Jahren noch anwachsen wird. Die Folge dürfte ein starker Anstieg der Energiepreise sein – nicht nur durch die Auswirkungen des Ukraine-Kriegs.

Angesichts dieses Szenarios, das sich in Abwandlungen auch in anderen europäischen Ländern beobachten lässt, scheint die Notlösung der EU eine gewisse Sinnhaftigkeit aufzuweisen. Demnach soll es bis spätestens 2030 möglich bleiben, Investitionen in Gaskraftwerke als nachhaltig einzustufen. Bei Kernkraftwerken soll das bis 2045 möglich sein.

Die unterschiedlichen Fristen zeigen auf, dass die EU die beiden Energieträger in Bezug auf ihre Nachhaltigkeit unterschiedlich einstuft. So ist die Verbrennung von Gas immer im dem Ausstoß von CO2 verbunden, was bei Kernkraft vollständig wegfällt. Dafür sind Atomkraftwerke mit erheblichen Problemen und Risiken behaftet, von der Endlagerung bis hin zu über Jahrhunderte andauernde Umwelt– und Gesundheitsschäden bei Störfällen.

EU-Taxonomie sendet Signale an die Finanzbranche aus

Gerade die umstrittene Entscheidung der EU-Kommission zu Gas und Kernkraft wird sich belebend auf den Markt der ESG-Anlageprodukte auswirken. Denn dass die Situation unbefriedigend ist, belegt der Taxonomie-Kompromiss so deutlich wie nur wenig anderes.

Der einzige Weg hin zu einer nachhaltigen Energiepolitik ohne Gas und ohne Kernkraft ist der zügige Ausbau erneuerbarer Energien. Unbestritten wird daher der grüne Fintech-Sektor weiter an Bedeutung gewinnen – sowohl als Quelle solider und rentabler Anlagen als auch als Motor für eine zügig umsetzbare Nachhaltigkeitsstrategie.

 

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